Original-Taillen, Teil 5: Schlamperei

Wie war das nochmal, die Viktorianer haben versäubert wie die Weltmeister? Alles schön ordentlich und so? Ha! Um nicht zu sagen: Haha!

Die Innenseite eines kleinen Stehkragens. Rechts und links die Schulternähte. Die Nahtzugaben des Rücketeils reichten nicht mehr unter den Kragenbeleg. Na und? Lassen wir sie einfach lose! Der Kragenbeleg reicht nicht ganz bis zur Naht? Er ist zu kurz? Egal, wir setzen einfach was an (bei der linken Schulternaht)!

Schößchen von innen. Zur Orientierung: Oben links das schwarze ist der Stabtunnel auf der hinteren Mittelnaht. Hier wurden offenbar kleine Rest-Fitzelchen des Oberstoffs aufgepuzzelt, und zwar kreuz und quer. Im 18. Jh. hatte man noch schamlos im sichtbaren Bereich gestückelt, im 19. Jh. nur noch innen. Na also, die Viktorianer waren doch ordentlich! Relativ halt. Also in Relation zum 18. Jh.

Nochmal Kragen, diesmal von vorn. Wieder der lieblos draufgeknallte Beleg – für solche Nähte würde ich mich schämen! Und links hat man offenbar ein Eck ans Vorderteil angeschnitten und dann verschämt weggeklappt. Übrigens: Auf dem Taillenband steht der Name einer Schneiderei. Nix Eigenbau!

A propos Stückeln: Hier das Schößchen der braunen Taille. Da flitzt mal eben eine Webkante diagonal über den Beleg, und dann wird ein Flicken draufgesetzt. Der Rest ist immerhin symmetrisch. Naja, halbwegs. An beiden Bildrändern sehen wir, daß man an Oberstoff sparen wollte: Wie bei den Vorderkanten setzte man offensichtlich billigeren, schwarzen Stoff auf. Andererseits sind die Nahtzugaben alle mit schmalem Seidenband versäubert. Was bedeutet das, wenn man für Versäuberung und für Stückeln viel Zeit investiert? Entweder, daß der Oberstoff verdammt teuer war – oder Arbeitszeit immer noch verdammt billig. Zur Zeit der industriellen Revolution, mit Spinn- und Webmaschinen einerseits, in die Städte drängendem Proletariat und düsteren Jobaussichten für Frauen anderererseits, tippe ich auf letzteres.

Rechte Vorderkante des cremefarbenen Teils, das sehr wahrscheinlich ein Brautkleid war. Wie in Teil 3 erwähnt, wurde die Vorderkante an die Webkante angelegt – auch im Futter. Da spart man sich das Versäubern. Für den V-Ausschnitt wurde(n) die Webkante(n) vom oberen Ende der Knopfleiste an einfach nur diagonal nach innen geklappt und vermutlich eingebügelt. Fertig. Annähen? Oberstoff an Futter annähen? Wird überbewertet! Ich sag’s ja immer: Von Truly Victorian braucht man nur einen Schnitt, nämlich den für um 1880, der weit über die Hüfte runterreicht. Untenrum schnippelt man einfach weg, was für das gewünschte Modell zuviel ist, und wenn man statt hochgeschlossen einen V-Ausschnitt will, klappt man einfach den Überschuß nach innen weg. Hochauthentisch, wie wir sehen.

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